Aufruf, Material und Termine 2023

November 2023 – Gedenken an die Novemberpogrome 1938

Kein Vergeben – kein Vergessen: Gedenken heißt Handeln!

Als antifaschistisches Bündnis rufen wir am 9. November 2023, dem 85. Jahrestag der Novemberpogrome, zu einer Gedenkkundgebung am Mahnmal Levetzowstraße mit anschließender kraftvoller, antifaschistischer Demo durch Moabit auf.

Der 9. November 1938 war der Höhepunkt der Novemberpogrome und das Fanal für den Massenmord an über 6 Millionen Jüdinnen*Juden. Schrittweise hatten die Nazis bis dahin die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung mit Berufsverboten, dem Ausschluss aus Universitäten, dem Raub jüdischen Eigentums und der Markierung von Jüdinnen*Juden und anderen Minderheiten als “rassische Feinde” der sogenannten “Volksgemeinschaft” betrieben. Die Reichspogromnacht stellte den Übergang von der Diskriminierungs- zur Vernichtungspolitik dar. Staatlich orchestriert und angestoßen, kam es überall in Deutschland und Österreich unter der Anführung von SA und SS zu einem hasserfüllten Ausbruch des deutschen Mobs gegen die jüdische Bevölkerung. In ihrer antisemitischen Zerstörungswut plünderten sie jüdische Geschäfte und Wohnungen, zerstörten Friedhöfe und über die Hälfte der Synagogen und Gebetshäuser; viele wurden in Brand gesteckt. Jüdinnen*Juden wurden durch die Straßen getrieben, verschleppt, inhaftiert, vergewaltigt. Über 1.300 wurden ermordet. Am 10. November erfolgten die ersten reichsweiten, systematischen Deportationen von 30.000 Jüdinnen*Juden in die ersten Konzentrationslager. Mit der weiteren Entrechtung und dem Verbot der Auswanderung ab 1941 wurden immer mehr Jüdinnen*Juden verhaftet. Die Menschen denen es nicht gelang zu fliehen oder sich zu verstecken, wurden weiter über die Deportationsstationen in die besetzten Ostgebiete geschickt, um sie dort in den Vernichtungslagern zu ermorden. Allein vom Güterbahnhof Moabit wurden über 32.000 Jüdinnen*Juden deportiert. In langen Marschkolonnen wurden sie mitten am Tag durch Moabit getrieben, das rund um das Westfälische Viertel Heimat vieler Jüdinnen*Juden war, um in den am Bahnhof bereit stehenden Waggons abtransportiert zu werden.
Was bis dahin eine unheilvolle Bedrohung war, wurde Realität: Der vom antisemitischen Wahn getriebene Versuch der Vernichtung aller und jedes einzelnen Juden, jeder einzelnen Jüdin, der erst mit der Niederlage Nazideutschlands 1945 gestoppt werden konnte.

Die heutige deutsche “Erinnerungskultur”, die von Staat, Politik und Zivilgesellschaft getragen wird, war ein langer, widerstands- und widerspruchsvoller Prozess, der teils von Überlebenden und Antifaschist*innen erkämpft, von juristischen Meilensteinen wie dem Eichmann- und den Auschwitzprozessen angestoßen, aber auch durch die staatliche Institutionalisierung des Gedenkens ab den 1990er Jahren stabilisiert wurde. Damit wurde die “Aufarbeitung der Vergangenheit” zugleich zur staatstragenden Doktrin funktionalisiert. 1945 wurde zur Stunde Null, zum ideologischen Symbol des absoluten Bruchs mit der “Volksgemeinschaft”. Vom Fortleben nationalsozialistischer Ideologie wollten und wollen die gut gewordenen Deutschen nichts wissen. Bis heute gilt: “Von allem nichts gewusst!” In ihren Familien gab es keine Nazis, alle waren im Nachhinein kleinere oder größere Widerständler*innen. Die liberale Bundesrepublik ist heute “stolz” auf ihr Holocaustmahnmal, weil sie einen Schlussstrich unter die Vergangenheit gesetzt hat.
Doch neben den kontinuierlichen und unverhohlenen Angriffen auf das Gedenken an die Shoah und dessen Leugnung von Neonazis und anderen Rechten, bricht sich auch die unbewusste Schuldabwehr der Erinnerungsgemeinschaft selbst immer wieder Bahn. Etwa wenn Liberalnationale von der “Moralkeule Auschwitz” sprechen (Martin Walser), der Antisemitismus der Linksliberalen so schwer auf ihnen lastet, dass er “gesagt werden muss” (Günter Grass), antisemitische Flugblätter in Schulranzen von heutigen Regierungsverantwortlichen als “Jugendsünde” bezeichnet werden (Hubert Aiwanger) oder in Form der Anschläge und hinterlassenen antisemitischen, rassistischen, LGBTIQ*-feindlichen Schriften in Berlin, etwa an der abgebrannten Bücherbox am Gedenkort Gleis 17 und dem Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen. Dies zeigt sich ebenfalls häufig, wenn eine vermeintlich linke Palästinasolidarität dafür herhalten muss, die eigenen antisemitischen Aggressionen gegen den jüdischen Staat mit moralisch gutem Gewissen ausleben zu können. Dabei dient der israelische Staat nicht nur als Projektionsfläche für die “Vergangenheitsbewältigung” der deutschen Antisemit*innen, er ist auch das internationale Feindbild eines globalen Antisemitismus geworden – ganz unabhängig davon, welche Regierung in Israel an der Macht ist.
Es gilt für uns Antifaschist*innen, für die Existenz des Staates Israel, das heißt den Staat der Überlebenden der Shoah, als Zufluchtsort und notwendige Sicherheitsgarantie für Jüdinnen*Juden einzustehen und sich mit der starken israelischen Demokratiebewegung zu solidarisieren.
Antifaschistisches Gedenken heißt für uns, die Widersprüche der deutschen “Vergangenheitsbewältigung” ernst zu nehmen, jede Form des deutschen “Wirs” anzugreifen und das Fortwähren des Antisemitismus aufzuzeigen und zu bekämpfen – erst recht in Zeiten einer sich erneut verschärfenden deutschen und europäischen Politik gegen Geflüchtete, wieder aufkeimenden rassistischen Mobilisierungen und extrem rechten Wahlerfolgen.

Das Bündnis zum Gedenken an den 9. November ruft auch dieses Jahr wieder zu einer Gedenkkundgebung am Mahnmal an der ehemaligen Synagoge in der Levetzowstraße in Moabit auf. Anschließend wird eine antifaschistische Demonstration durch Moabit zum Deportationsmahnmal auf der Putlitzbrücke führen.

Unser Gedenken heißt:
– Solidarität mit allen von Antisemitismus Betroffenen und Israel als ihrem Zufluchtsort
– Keine Versöhnung mit Deutschland
– Gegen jeden Antisemitismus

Gedenkkundgebung und antifaschistischen Demonstration
9. November 2023 | 18.00 Uhr | Mahnmal Levetzowstraße | Moabit

Weitere Hintergründe, den diesjährigen Aufruf und Veranstaltungsankündigungen findet Ihr auch auf dieser Homepage.

Auswertung unserer Aktionen 2023

Als Organisator*innen der diesjährigen Gedenkkundgebung und Demonstration am 84.Jahrestag der Novemberpogrome in Moabit stellen wir fest: Selten konnten wir im Vorfeld so viel Öffentlichkeit für unser Anliegen herstellen. Seit über 20 Jahren haben nicht mehr so viele Menschen an unserem Gedenken teilgenommen. Das lag sicherlich an dem von der Hamas und ihren Verbündeten angerichteten Massaker vom 7. Oktober in Israel und der anschließenden internationalen Welle antisemitischer Äußerungen und Vorfälle, die auch in Berlin und Deutschland spürbar war. Viele Menschen fühlten sich aufgerufen, dagegen Position zu beziehen .

Leider kam es am Rande der Demonstration mehrfach zu gewalttätigen Angriffen.

Im Vorfeld veranstalteten zwei Mitgliedsgruppen unseres Bündnisses eine Lesung mit Philipp Dinkelaker zur ehemaligen Synagoge in der Levetzowstraße in Berlin-Moabit und ein Gespräch mit Nicholas Potter und Stefan Lauer, den Herausgebern des Buches „Judenhass Underground“ zu Antisemitismus in linken Subkulturen, die jeweils gut besucht waren. Zudem wurden etliche Flyer und Plakate in Umlauf gebracht. Nach mehreren Jahren Pause produzierten und verteilten wir außerdem eine Broschüre. Darin wurden die Themen des Aufrufs und der Mobilisierung etwas ausführlicher beleuchtet. Sie kann auf unserer Internetseite heruntergeladen werden.

In den sozialen Medien und auf unserer Internetseite 9november.blackblogs.org fanden unsere Beiträge reges Interesse. Vor allem in den letzten Tagen vor der Demonstration war unsere Mobilisierung breit wahrnehmbar. Seinen Teil trug dazu auch der Club ://about blank bei, der mit einem eigenen Beitrag zur Demonstration mobilisierte. Vielen Dank dafür.

Mit etwas Verspätung begann am Tag selber unsere Gedenkkundgebung kurz nach 18 Uhr am Mahnmal Levetzowstraße mit den Klängen der Band Zhetva. Im Folgenden verlasen die Moderator*innen den Aufruf und einen Beitrag des Bündnisses zum Massaker am 7. Oktober in Israel. Anschließend kamen der Überlebende der Shoah Kurt Hillmann (stellvertretend vorgetragen von Jutta Harnisch) und die Nachkommin einer Shoah-Überlebenden Eva Nickel zu Wort und teilten ihre Perspektive auf die damaligen Ereignisse sowie heutige Formen der Ausgrenzung und Diskriminierung.

Nach einer starken Rede der sozialistischen Jugendgruppe Hashomer Hatzair und einem Beitrag zum antisemitischen Scheunenviertelpogrom von 1923 leitete der Chor KMC mit mehreren Liedern zur antifaschistischen Demonstration über.

Diese zog über die Turmstraße zum Deportationsdenkmal an der Beusselstraße. Auf dem Weg dorthin wurde ein Grußwort der Halle-Überlebenden und Nebenklägerin Naomi Henkel-Gümbel verlesen. In Redebeiträgen der Berliner VVN-BdA, EAG und ANA wurde auf den Antisemitismus in der AfD und in anderen gesellschaftlichen Bereichen, darunter auch in linken Kreisen, Bezug genommen und dieser kritisiert.

Das letzte Stück der Demonstration, der Weg auf die Brücke, legten wir schweigend zurück, bevor am Denkmal ein Kaddisch, das jüdische Totengebet, gesprochen wurde. Um kurz nach 21 Uhr war die Demonstration zu Ende.

Während in den letzten Jahren jeweils etwa 600 Menschen an unseren Aktivitäten teilnahmen, waren es in diesem Jahr mehr als 2.000 Menschen. Die Steigerung hatte unserer Einschätzung nach zum einen mit der derzeitigen Präsenz des Themas Antisemitismus in der Öffentlichkeit zu tun. Viele der Teilnehmenden suchten nach einer Möglichkeit, dazu aktiv Stellung zu beziehen. Zum anderen bekam die Veranstaltung nach einer Bedrohung eines Plakatierers eine größere (Presse)Öffentlichkeit als sonst üblich. In den sozialen Medien warben viele Menschen für unsere Veranstaltung.

Langjährige Begleiter*innen und Organisator*innen der 9. November-Demonstration in Moabit schätzten, dass letztmalig im Jahr 2000 – dem Jahr des sog. Antifa-Sommers – so viele Menschen teilnahmen. Dass es so viel Interesse an unserer Veranstaltung gab, lässt uns hoffen und gibt uns Kraft.

Aufgrund der Auseinandersetzungen mit antizionistischen Störversuchen im Vorjahr und der angespannten Stimmung im Kontext des Kriegs zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas wurden in diesem Jahr deutlich intensivere Sicherheitsvorkehrungen im Bezug auf die Demonstration getroffen.

Diese konnten natürlich nicht verhindern, dass ein Plakatierer im Vorfeld bedroht und mit holocaustverharmlosenden Äußerungen bedacht wurde.

Am Tag selber blieb es, bis auf wenige Zwischenfälle, vergleichsweise ruhig. An mehreren Ecken wurden der Demonstration „Free Gaza“/“Free Palestine“-Parolen entgegen gerufen. Schwerer wiegen die Angriffe auf Demonstrationsteilnehmende. So wurden mehrere Eier in die Demonstration geworfen. Ein*e Teilnehmer*in wurde durch einen aus einem Fenster geworfenen Stein an der Schulter getroffen. Diese Angriffe hätten zu ernsten Verletzungen führen können. Sie zeigen, dass das notwendige öffentliche Eintreten gegen Antisemitismus weiterhin riskant ist und Schutzmaßnahmen weiterhin notwendig sind.

Wir bedanken uns bei allen, die auf ihre Weise an der Organisation und Umsetzung der Kundgebung und Demonstration beteiligt waren. Wir sehen uns im nächsten Jahr.

Material:

Plakat 2023
Aufruf 2023
Broschüre 2023

Termine:

19. Oktober | 20.00 Uhr  | loge.  Kinzigstr. 9 (Berlin-Friedrichshain)
Die Shoah als Berliner “Alltag”? Das Sammellager in der Synagoge Levetzowstraße 1941/1942 – Vortrag von Philipp Dinkelaker
Unter den Augen der Öffentlichkeit deportierten die Berliner Behörden unter Ägide der Gestapo zwischen Oktober 1941 und Ende 1942 über das Sammellager in der ehemaligen Synagoge Levetzowstraße 20000 Jüdinnen und Juden und antisemitisch verfolgte Menschen. In seinem Vortrag geht Philipp Dinkelaker am Beispiel des Gestapo-Sammellagers Levetzowstraße auf Alltag und Öffentlichkeit der Shoah in Berlin ein. Der Vortrag fragt nach den Handlungsspielräumen von Tätern, Opfern und Bystanders und geht auch auf die Nachgeschichte des Ortes ein. Mitten in der Stadt gelegen blieb dieser Tatort nicht unbemerkt, doch es dauerte Jahrzehnte, bis die postnationalsozialistische Öffentlichkeit davon Notiz nahm.

Philipp Dinkelaker ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina. Er forscht zu Nationalsozialismus, Antisemitismus und zum Kalten Krieg.
Eine Veranstaltung der Gruppe Theorie, Kritik & Aktion | Berlin TKA

27. Oktober | 19.00 Uhr | ZGK Scharni, Scharnweberstr. 3 (Berlin-Friedrichshain)
EAG-Solitresen mit Lesung „Judenhass Untergrund“ mit den Herausgebern Nicholas Potter und Stefan Lauer 

Niemand will Antisemit sein. Erst recht nicht in Subkulturen und Bewegungen mit einem progressiven, emanzipatorischen Selbstbild. Judenhass geht aber auch underground – ob Rapper gegen Rothschilds, DJs for Palestine oder Punks Against Apartheid. BDS, die Boykottkampagne gegen den jüdischen Staat, will nahezu jedes Anliegen kapern, von Klassenkampf bis Klimagerechtigkeit. Altbekannte Mythen tauchen in alternativer Form wieder auf, bei Pride-Demos, auf der documenta oder beim Gedenken an den Terror von Hanau. Und viele Jüdinnen*Juden fragen sich, wo ihr Platz in solchen Szenen sein soll.

Eine Anklage mit anschließender Diskussion. Kritisch, aber konstruktiv. Und vor allem solidarisch.

Wir freuen uns auf die Buchvorstellung mit anschließender Diskussion.
Vor Ort bekommt ihr unsere aktuellen Plakate & Broschüren.

Anschließend Solitresen.

Eine Veranstaltung der Emanzipative & Antifaschistische Gruppe“ (EAG)

09. November | 18.00 Uhr | Mahnmal Levetzowstraße (Berlin-Moabit)
Kundgebung in Gedenken an die Novemberpogrome 1938 und anschließende antifaschistische Demonstration