Auswertung unserer Aktionen 2023

Als Organisator*innen der diesjährigen Gedenkkundgebung und Demonstration am 84.Jahrestag der Novemberpogrome in Moabit stellen wir fest: Selten konnten wir im Vorfeld so viel Öffentlichkeit für unser Anliegen herstellen. Seit über 20 Jahren haben nicht mehr so viele Menschen an unserem Gedenken teilgenommen. Das lag sicherlich an dem von der Hamas und ihren Verbündeten angerichteten Massaker vom 7. Oktober in Israel und der anschließenden internationalen Welle antisemitischer Äußerungen und Vorfälle, die auch in Berlin und Deutschland spürbar war. Viele Menschen fühlten sich aufgerufen, dagegen Position zu beziehen .

Leider kam es am Rande der Demonstration mehrfach zu gewalttätigen Angriffen.

Im Vorfeld veranstalteten zwei Mitgliedsgruppen unseres Bündnisses eine Lesung mit Philipp Dinkelaker zur ehemaligen Synagoge in der Levetzowstraße in Berlin-Moabit und ein Gespräch mit Nicholas Potter und Stefan Lauer, den Herausgebern des Buches „Judenhass Underground“ zu Antisemitismus in linken Subkulturen, die jeweils gut besucht waren. Zudem wurden etliche Flyer und Plakate in Umlauf gebracht. Nach mehreren Jahren Pause produzierten und verteilten wir außerdem eine Broschüre. Darin wurden die Themen des Aufrufs und der Mobilisierung etwas ausführlicher beleuchtet. Sie kann auf unserer Internetseite heruntergeladen werden.

In den sozialen Medien und auf unserer Internetseite 9november.blackblogs.org fanden unsere Beiträge reges Interesse. Vor allem in den letzten Tagen vor der Demonstration war unsere Mobilisierung breit wahrnehmbar. Seinen Teil trug dazu auch der Club ://about blank bei, der mit einem eigenen Beitrag zur Demonstration mobilisierte. Vielen Dank dafür.

Mit etwas Verspätung begann am Tag selber unsere Gedenkkundgebung kurz nach 18 Uhr am Mahnmal Levetzowstraße mit den Klängen der Band Zhetva. Im Folgenden verlasen die Moderator*innen den Aufruf und einen Beitrag des Bündnisses zum Massaker am 7. Oktober in Israel. Anschließend kamen der Überlebende der Shoah Kurt Hillmann (stellvertretend vorgetragen von Jutta Harnisch) und die Nachkommin einer Shoah-Überlebenden Eva Nickel zu Wort und teilten ihre Perspektive auf die damaligen Ereignisse sowie heutige Formen der Ausgrenzung und Diskriminierung.

Nach einer starken Rede der sozialistischen Jugendgruppe Hashomer Hatzair und einem Beitrag zum antisemitischen Scheunenviertelpogrom von 1923 leitete der Chor KMC mit mehreren Liedern zur antifaschistischen Demonstration über.

Diese zog über die Turmstraße zum Deportationsdenkmal an der Beusselstraße. Auf dem Weg dorthin wurde ein Grußwort der Halle-Überlebenden und Nebenklägerin Naomi Henkel-Gümbel verlesen. In Redebeiträgen der Berliner VVN-BdA, EAG und ANA wurde auf den Antisemitismus in der AfD und in anderen gesellschaftlichen Bereichen, darunter auch in linken Kreisen, Bezug genommen und dieser kritisiert.

Das letzte Stück der Demonstration, der Weg auf die Brücke, legten wir schweigend zurück, bevor am Denkmal ein Kaddisch, das jüdische Totengebet, gesprochen wurde. Um kurz nach 21 Uhr war die Demonstration zu Ende.

Während in den letzten Jahren jeweils etwa 600 Menschen an unseren Aktivitäten teilnahmen, waren es in diesem Jahr mehr als 2.000 Menschen. Die Steigerung hatte unserer Einschätzung nach zum einen mit der derzeitigen Präsenz des Themas Antisemitismus in der Öffentlichkeit zu tun. Viele der Teilnehmenden suchten nach einer Möglichkeit, dazu aktiv Stellung zu beziehen. Zum anderen bekam die Veranstaltung nach einer Bedrohung eines Plakatierers eine größere (Presse)Öffentlichkeit als sonst üblich. In den sozialen Medien warben viele Menschen für unsere Veranstaltung.

Langjährige Begleiter*innen und Organisator*innen der 9. November-Demonstration in Moabit schätzten, dass letztmalig im Jahr 2000 – dem Jahr des sog. Antifa-Sommers – so viele Menschen teilnahmen. Dass es so viel Interesse an unserer Veranstaltung gab, lässt uns hoffen und gibt uns Kraft.

Aufgrund der Auseinandersetzungen mit antizionistischen Störversuchen im Vorjahr und der angespannten Stimmung im Kontext des Kriegs zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas wurden in diesem Jahr deutlich intensivere Sicherheitsvorkehrungen im Bezug auf die Demonstration getroffen.

Diese konnten natürlich nicht verhindern, dass ein Plakatierer im Vorfeld bedroht und mit holocaustverharmlosenden Äußerungen bedacht wurde.

Am Tag selber blieb es, bis auf wenige Zwischenfälle, vergleichsweise ruhig. An mehreren Ecken wurden der Demonstration „Free Gaza“/“Free Palestine“-Parolen entgegen gerufen. Schwerer wiegen die Angriffe auf Demonstrationsteilnehmende. So wurden mehrere Eier in die Demonstration geworfen. Ein*e Teilnehmer*in wurde durch einen aus einem Fenster geworfenen Stein an der Schulter getroffen. Diese Angriffe hätten zu ernsten Verletzungen führen können. Sie zeigen, dass das notwendige öffentliche Eintreten gegen Antisemitismus weiterhin riskant ist und Schutzmaßnahmen weiterhin notwendig sind.

Wir bedanken uns bei allen, die auf ihre Weise an der Organisation und Umsetzung der Kundgebung und Demonstration beteiligt waren. Wir sehen uns im nächsten Jahr.

9. November 2021 – Gedenken an die Novemberpogrome 1938

Wir gedenken am 9.November 2021 auch in diesem Jahr der Opfer der Novemberpogrome 1938.

„Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen.“

Dieses Diktum des Auschwitzüberlebenden Primo Levi bleibt uns dabei auch weiterhin präsent.
Dem Gedenken an die deutschen NS-Verbrechen Gehör zu verschaffen und Konsequenzen daraus einzufordern, bleibt die wichtigste Aufgabe für alle Antifaschist*innen. In diesem Sinne hoffen wir, möglichst viele von Euch am 9. November bei der Gedenkkundgebung in Moabit zu sehen.

Gemeinsam mit Zeitzeug*innen, Vertreter*in von verschiedensten Initiativen und mit musikalischer Unterstützung wollen in unserem antifaschistischen Gedenken, Handeln und Eingreifen nicht müde werden und auch dieses Jahr auf die Straße gehen.

Am 9. November 1938 fanden die Novemberpogrome ihren Höhepunkt. Im deutschen Herrschaftsbereich wurden Jüdinnen*Juden vergewaltigt, inhaftiert, verschleppt und ermordet. Jüdische Geschäfte, Wohnungen, Gemeindehäuser und Synagogen wurden geplündert, zerstört und in Brand gesetzt. Auf den Straßen entfesselte sich der deutsche antisemitische Terror, der in der Nacht staatlich angestoßen und orchestriert wurde. SA und SS führten unterstützt durch Polizei und Feuerwehr die Morde, Brandstiftungen und Verwüstungen an. Die nicht-jüdische Bevölkerung beteiligte sich an dem Pogrom oder stimmte mit ihrem Schweigen zu. Insgesamt wurden in den Tagen um den 9. November 1.300 Jüdinnen*Juden ermordet, über die Hälfte der Gebetshäuser und Synagogen in Deutschland, Österreich und dem annektierten Sudetenland wurden zerstört. Ab dem 10. November erfolgte die Deportation von 30.000 Jüdinnen*Juden in Konzentrationslager. Die Pogrome waren Wegbereiter für die Shoah.

Weitere Informationen, Hintergründe und Veranstaltungsankündigungen findet Ihr demnächst auch auf dieser Homepage.

Gedenkkundgebung und Demonstration
9. November 2021 | 18.00 Uhr | Mahnmal Levetzowstraße | Moabit

9. November 2019 – Gedenken an die Novemberpogrome 1938

am helllichten Tag und unter aller Augen…

Die Gewalt der Pogrome vom 7. bis 13. November 1938 fand am 9. November ihren vorläufigen Höhepunkt. Überall in Deutschland und Österreich brannten die Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden überfallen, demoliert und geplündert. Deutsche Antisemit*innen demütigten, schlugen, vergewaltigten und ermordeten Jüdinnen*Juden. Etwa 30.000 Männer wurden verhaftet und in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt. Die Pogrome stellten eine weitere, entscheidende Radikalisierung der antijüdischen Politik des NS-Regimes dar. Bereits zuvor hatten die Nazis die deutschen Jüdinnen*Juden Schritt für Schritt aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Nach dem November 1938 wurde die antisemitische Politik immer gewalttätiger und gipfelte letztlich in dem Versuch, alle Jüdinnen*Juden Europas zu vernichten. Bis 1945 hatten die Nazis sechs Millionen Jüd*innen ermordet.

Das Bündnis zum Gedenken an den 9. November hat es sich seit 1990 zur Aufgabe gemacht, den Tag nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen. Auch in diesem Jahr rufen wir zu einer Gedenkkundgebung am Mahnmal an der ehemaligen Synagoge in der Levetzowstraße in Moabit auf. Anschließend wird eine antifaschistische Demonstration durch Moabit führen und am heutigen S-Bahnhof Westhafen enden, wo vor 71 Jahren Jüdinnen*Juden in Konzentrationslager deportiert wurden. Wir wehren uns gegen alle Versuche, das Gedenken an die Novemberpogrome zu übertönen, wie dies von den deutschtümelnden Festivitäten zum 30-jährigen Mauerfall-Jubiläum zu erwarten ist.

Unsere antifaschistische Praxis erschöpft sich nicht im Gedenken, sondern ist immer auch auf heute gerichtet. Alle Vergleiche mit aktuellen Zuständen wirken im Angesicht des Grauens der Novemberpogrome wie Hohn. Dennoch: Es sind immer noch Menschen in Berlin von rechter Gewalt betroffen. Diese sind nicht mit dem Verweis auf das Unvergleichbare zu relativieren.

Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus gehören in Deutschland keineswegs der Vergangenheit an. Auch heute werden in Berlin Jüdinnen*Juden auf offener Straße beschimpft und angegriffen. Den Betroffenen gilt unsere Solidarität.

Kommt zur

Gedenkkundgebung und Demonstration
9. November 2019 | 17.00 Uhr | Mahnmal Levetzowstraße | Moabit

9. November 2018 – Gedenken an die Novemberpogrome 1938 und Demonstration gegen den Neonazi-Aufmarsch am Hauptbahnhof

Am Freitag den 9. November jähren sich die Novemberpogrome von 1938 zum achtzigsten mal. Im gesamten Deutschen Reich wurden Jüdinnen*Juden verschleppt, vergewaltigt, inhaftiert und ermordet. Jüdische Geschäfte, Wohnungen, Gemeindehäuser und Synagogen wurden geplündert, zerstört und in Brand gesteckt. Auf den Straßen brach sich der gewalttätige deutsche Antisemitismus Bahn, der staatlich angestoßen und koordiniert wurde. Die nicht-jüdische Bevölkerung beteiligte sich aktiv an dem Pogrom oder stimmte mit ihrem Schweigen zu.
In diesem Jahr wollen zum gleichen Datum hunderte Neonazis, Rassist*innen und Revisionist*innen vom Hauptbahnhof aus durch das Berliner Regierungsviertel ziehen und diesen Tag des Gedenkens für ihre rassistischen und antisemitischen Zwecke nutzen.

Wir wollen uns an dem Abend des 9. Novembers weder Ort noch Zeit für ein angemessenes Gedenken nehmen lassen. Wie auch in den vergangenen Jahren, werden wir ab 17 Uhr eine Gedenkkundgebung am Mahnmal für die deportieren Berliner Jüdinnen*Juden in der Levetzowstraße abhalten. Dort sprechen neben u.a. einer musikalischen Begleitung die Zeitzeugen Marian Kalwary und Horst Selbiger.

Im Anschluss zieht unsere antifaschistische Demonstration durch Moabit zum Berliner Hauptbahnhof, um sich entschlossen den Neonazis entgegen zu stellen. Wenn wir am 9. November an die Pogrome von 1938 erinnern, heißt das, dass wir ihrer Opfer gedenken, ihnen Namen und Geschichten geben. Es heißt auch, dass wir antifaschistisch wachsam sind gegenüber einer Gesellschaft, deren autoritäre und Ressentiment geladene Tendenzen wieder offen zu Tage treten. Mit unseren Protesten stehen wir ein, gegen die heutigen antisemitischen und rassistischen Zustände und gegen eine deutsche Gedenkpolitik und Gesellschaft, die solche rechte Aufmärsche erst ermöglicht.

Gedenken und kämpfen wir gemeinsam: Kommt am 9. November zur Gedenkkundgebung und anschließend zur antifaschistischen Demonstration nach Moabit

9. November 2018 – 17 Uhr | Gedenken an die Reichspogromnacht am 09. Nov. 1938 | Mahnmal Levetzowstraße, Berlin Moabit

Den vollständigen Aufruf findet ihr hier auf der Homepage.

Aufruf 2017

9. November 2017 – 17 Uhr | Mahnmal Levetzowstraße, Berlin Moabit | Gedenkkundgebung und anschließende antifaschistische Demonstration

Je weiter ich Richtung Ku’damm ging, desto mehr Menschen waren auf der Straße. Auf einmal knirschten Glasscherben unter meinen Schuhen. Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass die Fenster aller jüdischen Geschäfte eingeschlagen waren. Vor einem Laden standen drei SA-Männer und schauten unbeteiligt ins Leere. Ich erinnere mich, dass sie in diesem Moment nichts Menschliches an sich hatten. Ich sah zu Boden und ging weiter. Ich wollte wissen, was geschehen war – obwohl ich das Gefühl hatte, dass mein Leben vorbei wäre, wenn unsere Blicke sich treffen würden.

So beschrieb Margot Friedländer den 10. November 1938. Ihre Mutter und ihr Bruder wurden in Auschwitz ermordet; sie selbst überlebte die Shoah trotz Inhaftierung im Konzentrationslager Theresienstadt. Das Bild der Zerstörung, dass sie zeichnet lässt erahnen, von welcher Gewalt die Nacht davor geprägt war. Am 9. November 1938 fanden die Novemberpogrome ihren Höhepunkt. Im deutschen Herrschaftsbereich wurden jüdische Menschen ermordet, vergewaltigt, inhaftiert und verschleppt. Jüdische Geschäfte, Wohnungen, Gemeindehäuser und Synagogen wurden geplündert, zerstört und in Brand gesteckt. Auf den Straßen brach sich der gewalttätige deutsche Antisemitismus Bahn, der in der Nacht staatlich angestoßen und orchestriert wurde. SA und SS führten die Morde, Brandstiftungen und Verwüstungen an. Die nicht-jüdische Bevölkerung beteiligte sich an dem Pogrom oder stimmte mit ihrem Schweigen zu. Zum Anlass nahm die NSDAP-Führung die Tötung eines deutschen Botschaftsangehörigen in Paris. Herschel Grynszpan, der aufgrund des deutschen Antisemitismus nach Frankreich migriert war, gab mehrere Schüsse auf das Botschaftsmitglied ab, nachdem er von der Deportation seiner Familie nach Polen erfahren hatte.

Auftakt zur Vernichtung

Insgesamt wurden in den Tagen um den 9. November 1.300 Jüdinnen*Juden ermordet, über die Hälfte der Gebetshäuser und Synagogen in Deutschland und Österreich wurden zerstört. Ab dem 10. November erfolgte die Deportation von 30.000 Jüdinnen*Juden in Konzentrationslager.  Die Pogrome waren der Auftakt zur Vernichtung. Bis zum 9. November 1938 hatte das nationalsozialistische Deutschland Jüdinnen*Juden Schritt für Schritt aus der Gesellschaft ausgegrenzt: mit Berufsverboten, Ausschluss aus den Universitäten, später mit den „Nürnberger Rassegesetzen“ sowie der „Arisierung“ jüdischer Unternehmen. Mit dem Überfall Deutschlands auf Polen 1939 begann die NS-Eroberungspolitik. Hinter den Truppen der Wehrmacht in Osteuropa folgten die deutschen Einsatzgruppen, die in Massenerschießungen Kommunist*innen und andere politische Gegner*innen, Jüdinnen*Juden, Rom*nja, Sinti*zza und andere als „Volksfeinde“ markierte Menschen, ermordeten. Osteuropa sollte als „Lebensraum“ „germanisiert“ werden. Die NS-Vernichtungspolitik gipfelte in der Shoah, dem industriellen Massenmord: Bis 1945 ermordeten die Deutschen sechs Millionen Jüdinnen*Juden.

German Gedächtnis

Der Sieg der Anti-Hitler-Koalition 1945 bedeutete für Millionen Verfolgte die Befreiung. Mit der Zerschlagung des nationalsozialistischen Regimes kam es noch in den 1940er Jahren zu den ersten Alliierten-Prozessen gegen einzelne Nazi-Täter*innen. Angesichts des geschehenen Unrecht war es nicht mögliche die Taten in angemessene Worte zu fassen. Die damalige Rechtsprechung konnte kaum den maßlosen Verbrechen gerecht werden. Demgegenüber war die spezifisch deutsche Erinnerung bestimmt von der Hervorhebung von einzelnen pathologisierten „Verbrechern“. Von den – laut dem heutigen Stand der Forschung – über 42.000 Orten nationalsozialistischer Verbrechen in Europa, behauptete der Großteil der deutschen Bevölkerung nichts mitbekommen zu haben. Mit dem Abbruch der Entnazifizierung in der BRD erhielt der Nationalsozialismus als eine aufzuarbeitende Geschichte erst in den 1960er Jahren durch den Eichmannprozess und die Auschwitzprozesse wieder Beachtung – und das auch nur mit Widerstand gegen die in die Staatsapparate reintegrierte NS-Funktionselite. Die Frage der Erinnerung blieb in Deutschland mit dem Versuch der Schuldloslösung verbunden. Die Etappen und Nuancen reichen vom Beschweigen und Verdrängen der  Täter*innengeneration, der unvollständigen Anklage der 68er-Bewegung, bis hin zur öffentlichen Empörung über den Kniefall von Willy Brandt vor dem Ehrendenkmal des Warschauer Ghettos 1970. Dieser steht symptomatisch für die Veränderung der deutschen ‚Verleugnungsgemeinschaft’ zu einer vermeintlichen vorbildlichen ‚Erinnerungsgemeinschaft’, die schließlich um ihr Holocaustmahnmal „beneidet“ werden sollte. Demgegenüber dauerte es bis weit in die 2000er Jahre bis sowjetische Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter*innen, Homosexuelle sowie Sinti*zza, Rom*nja und Jenische als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wurden. Bis heute müssen Opfer in der Rolle der Bittsteller*innen auftreten und bekommen Entschädigungszahlungen vorenthalten. Ersteinmal widersprüchlich mag dies wirken, wo doch die Geschichte der Wiedergutwerdung der Deutschen zum hegemonialen Gründungsmythos der BRD gereift ist. Diese habe sich in Negation zum Nationalsozialismus gegründet und kämpfe nun aufrecht gegen das Böse. Deutscher Antisemitismus besteht in jener Erzählung nur in historischer Form. Doch die andauernde Verweigerungshaltung gegenüber Geschädigten macht es sehr deutlich: Eine tatsächliche Aufarbeitung der Verbrechen und der gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Nationalsozialismus hervorgebracht haben, hat es nie gegeben. Die toten Jüdinnen*Juden dienen lediglich als Fundament einer neuen nationalen Selbstvergewisserung.

Antisemitismus, eine deutsche Normalität

Seit 2017 ist wieder eine faschistische Partei in den Bundestag eingezogen. Die Alternative für Deutschland (AfD) hat es geschafft, dem autoritären Bedürfnis und völkischem Denken in der deutschen Mehrheitsgesellschaft wieder einen offenen Platz zu geben. Mit dem Selbstbild als Erinnerungsweltmeister kämpfte immer zugleich das Bedürfnis nach nationaler Selbstbeweihräucherung: Ein wirtschaftlich so erfolgreiches Volk, habe das Recht von Auschwitz nichts mehr hören zu müssen, meinte beispielsweise Franz Josef Strauß Ende der 1960er Jahre. Seit dem „Sommer der Migration“ 2015 finden Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus, Verschwörungstheorien und die Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen ein parteipolitisches Sammelbecken. Im Januar 2017 sprach der thüringische AfD-Vorsitzende Björn Höcke  bei der AfD-Jugendorganisation Junge Alternative (JA) in Dresden bezogen auf das Holocaustmahnmal von einem „Denkmal der Schande“, dass sich die Deutschen in das Herz ihrer Hauptstadt gepflanzt hätten. Höcke forderte ein Ende der „dämlichen Bewältigungspolitik“ und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. Diese bestehe nicht in einer „Vergangenheitsbewältigung als gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe“, sondern in einer „lebendigen Erinnerungskultur, die uns vor allen Dingen und zuallererst mit den großartigen Leistungen der Altvorderen in Berührung bringt“. Sein Parteikollege Alexander Gauland forderte in einer Rede im September 2017 auf einer Veranstaltung des sogenannten national-konservativen Flügels der AfD, dass „wir das Recht“ haben, „stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“. Martin Homann, der 2003 in einer Rede u.a. nach der Täterschaft von Jüdinnen*Juden in der Oktoberrevolution fragte und zu dem Schluss kam, dass sie mit der gleichen Berechtigung als „Tätervolk“ zu bezeichnen seien, wie Deutsche im Hinblick auf den Nationalsozialismus, zieht mit der AfD wieder als Abgeordneter in den Bundestag ein. Nach seiner antisemitischen Rede vor Mitgliedern eines CDU Ortsverbandes war er aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausgeschlossen worden. Angesichts dieser Entwicklungen und der Verschiebung des Diskurses der etablierten Parteien nach rechts erscheint es daher nur folgerichtig, dass im Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl gefragt wurde, ob „der Völkermord an den europäischen Juden […] weiterhin zentraler Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur sein“ solle.

Während in der deutschen Mehrheitsgesellschaft erneut in Frage gestellt wird, ob die Auseinandersetzung mit der Shoa relevant sei, sehen sich Jüdinnen*Juden in Deutschland zunehmend mit Antisemitismus konfrontiert. In einer Studie zum persönlichen Erleben und der Einschätzung von Antisemitismus bei Jüdinnen*Juden in Deutschland, die vom Bielefelder Institut für Konflikt- und Gewaltforschung 2017 durchgeführt wurde, zeigt sich deutlich die Normalität von Antisemitismus. Etwa dreiviertel der Befragten schätzt Antisemitismus weiterhin als „eher“ oder „sehr großes Problem“ ein. Der Staat Israel bleibt damit Zufluchtsort, eine Exit-Option für Jüdinnen*Juden. Ob es die deutsche Mehrheitsbevölkerung wahrhaben will oder nicht, ob sie es leugnet oder Antisemitismus ausschließlich in migrantischen Communities verortet: dieser ist weiterhin auch im Herzen der deutschen Mehrheitsgesellschaft anwesend. Antisemitismus macht „den Juden“ zur Projektionsfläche alles Schlechten. In komplexen Verhältnissen setzt er damit an die Stelle eines kritischen Denkens einen entmenschlichten Feind als einfache und abgeschlossene Erklärung. Er äußert sich in verschwörungstheoretischen Bedrohtheitsphantasien, in  Dämonisierung des israelischen Staates oder ganz konkret in Schmierereien und körperlichen Angriffen. Letzteres zum Beispiel im April 2017 am Berliner Ostbahnhof als ein Mann mit einer Flasche beworfen und antisemitisch beleidigt wurde. Antisemitismus zu erfahren bedeutet für Betroffene alltägliche Aggressionen, Ausgrenzungen und Demütigungen. Gewalttätige Überfalle rufen wenig Solidarität hervor; antisemitische Schmierereien schockieren schon gar nicht mehr. Die Gesellschaft „gewöhnt“ sich an Gewalt und Verfolgung – und sie stimmt mit ein. Zugleich fliegen rechte Terrorzellen auf, die Waffen gesammelt, Listen mit Personen angelegt und staatliche sowie militärische Verbindungen hatten. Aber die potentiell tödliche Bedrohung, die von ihnen ausgeht, reicht nur für maximal zwei bis drei erschrockene Zeitungsartikel. Als hätte es den „Nationalsozialistischen Untergrund“ nie gegeben – die von ihm Ermordeten, seine Ausspähung jüdischer Einrichtungen z.B. der Synagoge in der Rykestraße und seine Listen mit Anschlagszielen.

„Erinnern heißt handeln” (Esther Bejarano, Auschwitz-Komitee)

Wenn wir heute an die Novemberpogrome von 1938 erinnern, heißt das, dass wir ihrer Opfer gedenken, ihnen Namen und Geschichte geben. Es heißt auch, dass wir antifaschistisch wachsam sind gegenüber einer Gesellschaft, deren autoritäre und ressentimentgeladende Tendenzen wieder offener zu Tage treten. Die Novemberpogrome stellten einen ersten Höhepunkt der antisemitischen Verfolgung dar, aber passierten nicht aus dem Nichts heraus. Die deutsche Gesellschaft stimmte in die Vernichtungspolitik ein. „Aus der Erfahrung unseres Lebens sagen wir: Nie mehr schweigen, wegsehen, wie und wo auch immer Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit hervortreten!“

Dies haben uns die überlebenden Opfer des Nationalsozialismus und lebenslange Kämpfer*innen immer wieder aufgetragen, sie haben uns begleitet, unterstützt und ermutigt. Sie haben uns erklärt, was es bedeutet, als Geflüchtete*r leben zu müssen, was es bedeutet, nicht mehr als Mensch betrachtet zu werden. Wir werden unsere Kämpfe bald ohne sie führen und eigene Worte und Wege finden müssen. Dem Gedenken an die deutschen NS-Verbrechen auch weiterhin Gehör zu verschaffen sowie Konsequenzen daraus einzufordern, bleibt einer der wichtigsten Aufgabe für alle Antifaschist*innen.

In diesem Sinne: Kommt am 9. November zur Gedenkkundgebung und antifaschistischen Demonstration nach Moabit!