Aufruf, Material und Termine 2022

Einprägsame Worte der Mahnung und Angriffe auf das Gedenken zum 9. November 2022 – Ein Überblick

Zu dem diesjährigen Gedenken in Erinnerung an die Novemberpogrome von 1938 versammelten sich auch an diesem 9. November mehrere hundert Menschen zu der antifaschistischen Kundgebung am Mahnmal der ehemaligen Synagoge in der Levetzowstraße in Berlin-Moabit. Vor der anschließenden Demonstration zu dem Deportationsmahnmal auf der Putlitzbrücke, das an den nahe gelegenen Deportationsbahnhof erinnert, wurde in zahlreichen Redebeiträgen den Opfern der antisemitischen Pogrome vor 84 Jahren gedacht und aktuelle Formen des Antisemitismus und das staatliche Gedenken kritisiert. Als Zeitzeuge sprach der Shoah-Überlebende Kurt Hillmann, der 1933 als Sohn einer jüdischen Polin und eines Deutschen in Berlin geboren wurde. Er berichtete eindrucksvoll von seiner persönlichen Verfolgungsgeschichte und wies auch auf die in den letzten Jahren wieder deutlich ansteigenden antisemitischen Gewalttaten hin. Als weitere Redner:innen sprach Elke von der Berliner VVN-BdA aus der Perspektive nachfolgender Generationen und die Aktivistin Sonja Kosche berichtete von der damaligen Verfolgung von Sinti:zze und Rom:nja im Nationalsozialismus und bis heute andauernde Diskriminierung. Zudem sprach die sozialistisch-zionistische Jugendorganisation Hashomer Hatzair unter anderem über ihr zu feierndes 10-jähriges Bestehen, seit der (Wieder-)Gründung ihrer örtlichen Gruppe in Berlin. Nach musikalischen Beiträgen folgten auf der Demonstration noch Redebeiträge zu Stolpersteinverlegungen und lokaler Erinnerungsarbeit der Gruppe „Sie waren Nachbarn“ sowie Beiträge antifaschistischer Gruppen aus dem Bündnis, die sich klar gegen jede Form des Antisemitismus positionierten und eine scheinheilige deutsche Erinnerungskultur sowie Antisemitismus im Kulturbetrieb kritisierten. Zum Abschluss der Versammlung wurde mit wieder leiseren Tönen auf der Putlitzbrücke gemeinsam Kaddisch gesprochen und Blumen niedergelegt, um die Opfer und ihre Angehörigen zu würdigen.

Das Gedenken und Erinnern blieb jedoch auch in diesem Jahr nicht frei von Störungen und Übergriffen. Im Verlauf der Demonstration wurde ein Teilnehmerin von einem der Eier getroffen, welche aus einer Wohnung in der Stromstraße auf die Demonstration geworfen wurden. Bereits in vorherigen Jahren kam es zu derartigen physischen Angriffen auf das Gedenken, bei denen Gegenstände aus anliegenden Häusern auf die antifaschistische Demonstration geworfen und dabei Verletzungen und Schäden bewusst in Kauf genommen wurden. Von derartigen Angriffen auf das Gedenken und die antifaschistische Positionierung der Versammlung lassen die Betroffenen und wir uns jedoch nicht einschüchtern.
Bereits zu Beginn der Kundgebung wurde eine Person der Versammlung verwiesen, nachdem sie „Dreckige Berliner Juden“ und „Lasst euch von den Drecksjuden nichts erzählen“ gerufen hatte.
Aus einer anderen Wohnung wurde „Euch sollte man alle vergasen” sowie „Wenn Adolf noch hier wäre, würde er es euch zeigen“ gerufen. Zeitweise versuchte eine Person, die Demonstration durch Auslösen seiner Fahrrad-Alarmanlage zu stören. Darüber hinaus erfolgte der Versuch eine Israel-Fahne zu stehlen und entlang der Route ertönten mehrfach “Free Palestine”-Rufe und Palästina-Flaggen wurden gezeigt. Aus vorbeifahrenden Autos wurde „Scheiß Juden“ gerufen und Passant:innen zeigten Teilnehmenden der Demonstration den Mittelfinger.
Diese Übergriffe reihen sich in weitere Vorfälle ein, die an diesem 9. November erneut auch in anderen Teilen Berlins zu verzeichnen waren. Sie reihen sich ein, in ein weiterhin nach rechts rückendes politisches Klima im Land und die zunehmende Polarisierung, die Jüdinnen und Juden schon lange täglich in Deutschland zu spüren bekommen. Wir stellen uns entschlossen gegen jedwede Angriffe auf ein antifaschistisches und emanzipatorisches Gedenken und stehen solidarisch und fest zusammen mit allen von Antisemitismus Betroffenen.

9. November 2022 – Gedenken an die Novemberpogrome 1938

Wir gedenken am 9. November 2022 der Opfer der Novemberpogrome 1938

Kein Vergeben – Kein Vergessen: Gedenken heißt Handeln
Wie schon in den vergangenen Jahren rufen wir als antifaschistisches Bündnis für den 9. November 2022 um 18.00 Uhr in Gedenken an die Novemberpogrome von 1938 zu einer Kundgebung vor dem Mahnmal Levetzowstraße sowie zu einer anschließenden Demonstration durch Berlin-Moabit auf. Wir rufen auf zu einem heute weiterhin notwendigen antifaschistischen Gedenken, das an diesem Ort bereits seit mehreren Jahrzehnten Tradition hat. Im Jahr 1990 organisierte das Antifaschistische Aktionsbündnis Moabit die erste Gedenkveranstaltung zu den Novemberpogromen mit rund 60 Teilnehmer*innen. Seit 1990 überschatteten die Feierlichkeiten zum Mauerfall das Gedenken an die nationalsozialistischen Pogrome. Das antifaschistische Gedenken in Moabit richtete sich daher von Anfang an sowohl explizit gegen den erinnerungspolitischen Konsens der BRD als auch gegen den wieder spürbar anwachsenden deutschen Nationalismus. Damals war das Gedenken an die Novemberpogrome kaum verbreitet in der Linken und erst Recht nicht beim Rest der deutschen Gesellschaft. Es fand bis zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich in den jüdischen Gemeinden statt. Gleichzeitig war mit den Republikanern eine extrem rechte Partei in Fraktionsstärke Teil der Berliner Bezirksverordnetenversammlungen und Neonazi-Parteien, wie die FAP, waren aktiv auf den Straßen. Auch als Antwort auf die rassistischen Pogrome und Brandanschläge in den 1990er Jahren, wie in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, gab es nur eine Konsequenz: Gedenken muss antifaschistisch sein. Ein Gedenken, das zugleich laut sowie kämpferisch und den Opfern des Nationalsozialismus gewidmet ist. Nicht zuletzt war das Gedenken selbst Ziel von Angriffen, wie der Bombenanschlag auf das Deportations-Denkmal auf der Putlitzbrücke 1992 zeigte.

9. November 1938 – Auftakt der Entscheidung zur Vernichtung
In den Tagen um den 9. November 1938 wurden insgesamt rund 1.300 Jüdinnen*Juden ermordet, zahlreich misshandelt sowie vergewaltigt und über die Hälfte der Gebetshäuser und Synagogen im damaligen Deutschen Reich zerstört. Der deutsche Mob drang in seiner antisemitischen Zerstörungswut in Geschäfte und Wohnungen ein. Ein hasserfüllter Ausbruch, von NSDAP und SA orchestriert und mithilfe einer willigen deutschen Masse ausgeführt. Auf das staatlich initiierte Pogrom folgten ab dem 10. November die ersten reichsweiten systematischen Deportation von 30.000 Jüdinnen*Juden in Konzentrationslager – etwa 6.000 von ihnen kamen aus Berlin.
Bis zum 9. November 1938 hatte das nationalsozialistische Deutschland Jüdinnen*Juden Schritt für Schritt mit Berufsverboten, Ausschluss aus Universitäten und Schulen, den sog. Nürnberger Rassegesetzen und dem Raub jüdischen Eigentums aus der Gesellschaft ausgegrenzt und verarmen lassen sowie zur Zwangsarbeit gezwungen. Nach den Pogromnächten lag der Fokus der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik zunächst auf der Vertreibung der als jüdisch Verfolgten aus dem deutschen Reichsgebiet, wobei die Emigration einem zermürbenden Spießrutenlauf durch die deutsche Bürokratie gleichkam. Zusätzlich mussten die Verfolgten bestimmte Bedingungen für das Visum im Ausland erfüllen. Chronisch Kranken, Alten und all jenen, die etwa keinen Berufsabschluss hatten (was insbesondere Frauen betraf), wurde das Visum verwehrt. Zudem betrieben die meisten Länder eine restriktive Einwanderungspolitik.
Mit dem Überfall Deutschlands auf Polen begann 1939 die NS-Eroberungspolitik. Hinter den Truppen der nach Osteuropa vorrückenden Wehrmacht folgten die deutschen Einsatzgruppen, die die als „Volksfeinde“ gebrandmarkten Menschen in Massenerschießungen ermordeten. Neben Jüdinnen*Juden wurden nach Schätzungen etwa 500.000 Rom*nja und Sinti*zza im Porajmos, Homosexuelle, Menschen mit vermeintlichen Behinderungen und psychischen Krankheiten, Kommunist*innen und andere politische Gegner*innen sowie weitere Opfergruppen ermordet. Die NS-Vernichtungspolitik gipfelte in der Shoah, dem industriellen Massenmord. Die Entscheidung dazu fiel vermutlich im Winter 1941. Bis 1945 ermordeten die Deutschen sechs Millionen Jüdinnen*Juden.

Gedenkpolitik als praktischer Antifaschismus
Das einprägsame Zitat von Primo Levi „Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen“ bringt seit jeher den Antrieb für unsere Demonstration zum Ausdruck. Der Vorsatz, die Gesellschaft so einzurichten, dass sich die nationalsozialistischen Gräueltaten eben nicht wiederholen und eine Welt des Friedens und der Freiheit zu schaffen, ist Voraussetzung für antifaschistische Praxis. Im staatlichen Gebrauch verkommt das „Nie Wieder“ zu einer Erfolgsgeschichte mit liberaler Demokratie und Grundgesetz als einzig möglichem Happy End. Dabei wird die Kontinuität antisemitischen und rassistischen Gedankenguts und die hieraus motivierte Gewalt verdrängt, beschönigt und zu Einzeltaten heruntergespielt.
Das Gedenken am 9. November am Mahnmal Levetzowstraße soll explizit nicht unter dem Deckmantel „deutscher Aufarbeitung“ zu Verharmlosung, Verleugnung, Verdrängung oder Historisierung der Shoah beitragen. Es soll sich nicht instrumentalisieren lassen können und entgegen einer Vereinnahmung der Erinnerung für staatliche Zwecke und der Standortlogik stehen.
Wir unterstreichen mit diesem Gedenken unsere Forderung nach Entschädigung der letzten überlebenden Opfer des Nationalsozialismus und der Shoah. Außerdem verlangen wir, dass noch lebende NS-Täter*innen bestraft werden: Wir wenden uns gegen einen Schlussstrich. Die Erinnerung und die andauernde Vergegenwärtigung der Verbrechen des NS-Regimes und die Kontinuität rassistischer, antisemitischer und nationalistischer Einstellungen, die damals zum millionenfachen Mord geführt haben, ist die Basis eines gegenwärtigen Antifaschismus.

Kampf den alten und neuen Nazis. Kampf dem Antisemitismus und Rassismus.
Gedenken heißt Handeln!

Gedenkkundgebung und antifaschistischen Demonstration
9. November 2022 | 18.00 Uhr | Mahnmal Levetzowstraße | Moabit

Material:

Termine:

Oktober bis Dezember | Lichtenberg
Lichtenberger Aktionswochen gegen Antisemitismus: In den letzten Jahren hat die Zahl antisemitischer Vorfälle in Lichtenberg stark zugenommen. Auch durch die verschwörungsideologischen Mobilisierungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie haben antisemitische Denkweisen verstärkt an Präsenz gewonnen. Um diesen Zustand etwas entgegenzusetzen möchten die Antifaschistische Vernetzung Lichtenberg, Antifa in Praxis, Geschichtswerkstatt Lichtenberg, Lichtenberger Jugendantifa und Einzelpersonen zusammen mit einigen anderen Gruppen und Akteur*innen, im Rahmen einer Veranstaltungsreihe für das Thema Antisemitismus sensibilisieren, Wissen teilen, sich vernetzen und austauschen. Die Veranstaltungsreihe wird komplett kostenfrei sein und beinhaltet unterschiedliche Formate, sodass hoffentlich für alle was  dabei ist. Ihr seid alle herzlich eingeladen – wir freuen uns auf euch! Beachtet bitte die aktuelle Coronasituation und nehmt Rücksicht aufeinander. Das vollständige Programm findet sich unter: https://aktionswochen.blackblogs.org/

28. Oktober | 19.00 Uhr | Scharnweberstr. 38 (Berlin-Friedrichshain)
Solitresen der EAG mit Input zum Antifa-Gedenken an die Novemberpogrome und zu aktuellen Diskursen um das Shoah-Gedenken.
Bitte beachten: Bitte kommt geimpft und tagesaktuell getestet.

02. November | 19.00 Uhr | JUP – Unabhängiges Jugendzentrum Pankow Florastraße 84 (Berlin-Pankow)
Mobi zum Antifa-Gedenken an die Novemberpogrome & Input zu aktuellen Debatten zum Shoah-Gedenken
Am Mittwoch, dem 2. November 2022 wird im Rahmen der JUP-KüFA  erneut der Mobi-Input der EAG für das Antifa-Gedenken an die Novemberpogrome in Moabit gehalten. In diesem Rahmen werden wir auch auf aktuelle Diskurse zu Antisemitismus und Shoah-Gedenken eingehen.
Kommt getestet.

08. November | 19.00 Uhr  | loge.  Kinzigstr. 9 (Berlin-Friedrichshain)
Das Sammellager in der Berliner Levetzowstraße 1941/42 – Vortrag von Philipp Dinkelaker
In seinem Vortrag geht Philipp Dinkelaker am Beispiel des Gestapo-Sammellagers Levetzowstraße 1941/1942 auf Alltag und Öffentlichkeit der Shoah in Berlin ein. Unter den Augen der Öffentlichkeit deportierte die Gestapo über das Sammellager in der ehemaligen Synagoge Levetzowstraße 20000 Jüdinnen und Juden und antisemitisch verfolgte Menschen. Der Vortrag fragt nach den Handlungsspielräumen von Tätern, Opfern und Bystanders und geht auch auf die Nachgeschichte des Ortes ein.
Mitten in der Stadt gelegen blieb dieser Tatort nicht unbemerkt, doch es dauerte Jahrzehnte, bis die postnationalsozialistische Öffentlichkeit davon Notiz nahm.
Philipp Dinkelaker ist Historiker aus Berlin und forscht zu Nationalsozialismus, Antisemitismus und zum Kalten Krieg.
Eine Veranstaltung der Gruppe Theorie, Kritik & Aktion | Berlin TKA

09. November | 18.00 Uhr | Mahnmal Levetzowstraße (Berlin-Moabit)
Kundgebung in Gedenken an die Novemberpogrome 1938 und anschließende antifaschistische Demonstration